Kolumne: Unser Teppich und ich

Unser Teppich und ich – und was das mit Dankbarkeit zu tun hat

Da hat der Maler gerade die Wand frisch gestrichen. Dann steigt die große Geburtstagsfeier. Aber der Enkel bringt Unruhe.

Der Opa raunt ihm zu: „Geh doch mal nach nebenan. Da ist ein Tisch. Und Papier. Und Wachsmalstifte.“ Auf einmal war Ruhe. Endlich. Die Erwachsenen konnten plaudern. Ungestört. Auf einmal schaute die Oma nach nebenan – und zuckte zusammen: „Oh nein“, schrie sie. Der Enkel hatte die frisch weiße Wand mit den Wachsmalstiften bunt bemalt.

An dieser Stelle rechnet man mit einer Standpauke, einer Gardinenpredigt. Mit laut erhobener Stimme und blankem Entsetzen.

Aber dann kommt der Opa – und reagiert ganz anders. Er lächelt, geht nach nebenan. Er nimmt einen schwarzen Wachsmalstift und malt einen Rahmen um die bunten Farben, die sein Enkel an die Wand gezaubert hat.

Warum tut er das? Der Opa sagt: „Das ist mein Geburtstagsbild. Ihr seid mein größtes Geschenk. Viel wertvoller als jede weiße Wand.“

Und auch die Oma besinnt sich neu. Ihr wird deutlich, wie wertvoll der Enkel ist – und handelt ganz unerwartet.

Der Großvater in dieser Geschichte handelt liebevoll, rührig und dankbar. Er kann wahrscheinlich nur so reagieren, weil er weiß, was er an seiner Familie hat. Weil er dankbar ist für seine Freunde, seine Frau, seine Kinder und Enkel. Und für die Tatsache, dass er jetzt als Opa Geburtstag feiern darf – dass er wieder ein Jahr älter geworden ist und das im Kreis seiner Lieben genießen kann.

Ehrlich gesagt bin ich durch eine persönliche Erfahrung auf diese Idee gekommen. Und zwar haben wir uns einen neuen Teppich im Wohnzimmer gegönnt. Er war schrecklich teuer. Ich wollte noch zu meiner Frau sagen: „Sollen wir wirklich so viel Geld ausgeben?“ Aber ich habe es mir verkniffen. Innerlich war mir aber immer bewusst, wie teuer der Teppich war. Besonders war es mir bewusst, wenn eines der Kinder mit einer Tasse Kakao durchs Wohnzimmer balancierte. Oder wenn unser jüngstes Familienmitglied keine Windel anhatte – oder wenn unsere männliche Katze „Jimmy Kater“ durch die Wohnung tigerte und ich mich fragte, ob der Vierbeiner einen stillen Winkel suchte, in dem er seine Notdurft verrichten konnte.

Und wenn einem Mitglied der Familie mal ein Malheur passierte, war es nicht so weit her mit meiner Geduld und meiner Liebe. Dann merkte ich immer gleich, wie ich in meinem Kopf zu rechnen begann: Wenn noch x-mal so ein Missgeschick passiert, brauchen wir wieder einen neuen Teppich. Der Bodenbelag hält auf diese Weise höchstens noch Y Jahre. Und der ganze Spaß kostet dann Z Euro.

Aber eigentlich sind mir meine Kinder wichtiger als irgendein teurer Teppich. Definitiv. Vielleicht war ich zu wenig dankbar, dass ich sie habe. Kinder sind ein Geschenk. Und solange ich keine hatte, habe ich immer gedacht, dass einem als Vater stets klar sein müsste, dass ein Kind wertvoll ist. Und zwar wertvoller als etwa ein teurer Teppich.

Jedenfalls wurde mir das eines Tages bewusst. Dies durch eine Randbemerkung meiner Frau. Dann habe ich mir überlegt, wie ich gern wäre. So hat sich die Geschichte rund um den Opa entfaltet, der so dankbar für seine Kinder ist, dass er sich über die bemalte Wand freut. Außerdem setzt er nochmals einen drauf und malt einen Rahmen drumherum. Und stiftet seine Frau damit ebenfalls zur Dankbarkeit an.

Nach wie vor freue ich mich über unseren schönen Teppich. Und nach wie vor bin ich auch froh darüber, wenn er sauber bleibt. Aber inzwischen merke ich, dass mein Blutdruck nicht mehr ganz so in die Höhe geht, wenn eine Kakaotasse durchs Wohnzimmer bewegt wird. Denn es gibt Wichtigeres als einen Teppich. Zum Beispiel die Menschen, die darauf gehen, tanzen oder Purzelbäume darüber schlagen.

Übrigens: Die eingangs erzählte Geschichte mit dem Geburtstagsbild auf der Wand finden Sie in meinem Buch „Ein Geschenk zum Geburtstag. Kurze Geschichten zum Vorlesen bei Demenz“ (Reinhardt-Verlag: www.t1p.de/BestZeller). Wenn es Sie interessiert, können Sie dort auch herausfinden, wie die Großmutter reagiert hat. So wie dieser Opa und diese Oma wäre ich auch gern.

Uli Zeller